Ableismus pur: der Talk „radioeins inklusiv“

Am 22.9.2022 veranstaltete Radio1 einen Talk mit dem Titel „radioeins inklusiv“ 1Themenwoche „Radioeins inklusiv“: Podiumsdiskussion: Fokus Arbeitswelt vom 22.09.2022. Damaliger Link zur Sendung: https://www.radioeins.de/programm/sendungen/sendungen/369/2209/220922_live_aus_dem_bikini_18328.html. Gäst*innen waren u.a. der Aktivist Raúl Krauthausen (Sozialhelden e.V.)2https://sozialhelden.de/, Beatrix Barbenschneider (Beschäftigte in den Lichtenberger Werkstätten gGmbH)3https://www.linkemedienakademie.de/sprecherinnen/beatrix-babenschneider/ und Markus Biskamp (Job Coach)4 https://www.mosaik-berlin.de/de/job-coaching. Im Anschluss an die Sendung gab es massive Kritik. Grund dafür war, dass Raúl Krauthausen sowohl von den anderen Gäst*innen als auch vom Publikum – ausschließlich Menschen aus dem Werkstättenumfeld – torpediert wurde. Die Moderatorin Katja Weber machte dieses Ungleichgewicht zwar sichtbar, sah aber keinen Grund zum Eingreifen.

Der Sender RBB und Katja Weber sehen sich nun massiver Kritik ausgesetzt – zu Recht, wie ich finde. In diesem Artikel zeichne ich das Gespräch so gut es geht nach. 5Ich nutze dazu den Mittschnitt, der auf die Wortbeiträge gekürzt und als mp3 zur Verfügung gestellt wurde. Im Folgenden referenziere ich unter ‚Mitschnitt‘ diese Quelle..

Sketchnote: das Wort "Ableismus" im Zentrum, es wirft einen Schatten. Links davon eine Person, die missmutig auf dieses Wort schaut.

Was ist der Kontext?

Die Gesprächsrunde beschäftigt sich u.a. mit den Aufgaben und Tätigkeiten rund um Werkstätten für Menschen mit Behinderungen. Diese Werkstätten sind Bestandteil des sog. „2. Arbeitsmarktes“, der „…sich vom ersten Arbeitsmarkt dadurch unterscheidet, dass auf ihm Arbeitsplätze oder Beschäftigungsverhältnisse nur mithilfe von öffentlichen Fördermitteln erhalten oder geschaffen werden können…“ 6Bundeszentrale für politische Bildung: Erklärung des Begriffs „2. Arbeitsmarkt“ Werkstätten stellen Produkte her und Dienstleistungen zur Verfügung, die u.a. im „Allgemeinen Arbeitsmarkt“ 7In der Diskussion werden sowohl die Begriffe „1. Arbeitsmarkt“ als auch „Allgemeiner Arbeitsmarkt“ verwendet. Obwohl der erste Begriff in offiziellen Texten genutzt wird, haftet ihm inhärent die Wertung an, der wichtigste Markt zu sein. Raúl Krauthausen nutzt den zweiten Begriff, ich folge seinem Beispiel und nutze in diesem Text ausschließlich den „Allgemeinen Arbeitsmarkt“. genutzt werden. Sie verfolgen somit u.a. wirtschaftliche Interessen.

Die Werkstätten sind außerdem dem Gesetz nach dazu verpflichtet, Menschen mit Behinderung „…eine angemessene berufliche Bildung und eine Beschäftigung zu einem ihrer Leistung angemessenen Arbeitsentgelt aus dem Arbeitsergebnis anzubieten“ sowie ihnen „zu ermöglichen, ihre Leistungs- oder Erwerbsfähigkeit zu erhalten, zu entwickeln, zu erhöhen oder wiederzugewinnen“ 8https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_9_2018/__219.html. Vor allem dieses letzte Ziel wird seit 2018 mit dem sog. „Budget für Arbeit“ (abgekürzt BfA) subventioniert 9https://www.budgetfuerarbeit.de/.

Das Bild zeigt drei Abschnitte: der oberste symbolisiert den "Allgemeinen Arbeitsmarkt", der mittlere "2. Arbeitsmarkt", der untere "Arbeitslosigkeit". Im oberen Abschnitt befinden sich Arbeitnehmer*innen und Arbeitgeber*innen. Werkstätten – symbolisiert durch einen Kreis – sind zwischen 1. und 2. Abschnitt positioniert. Der Staat – symbolisiert durch einen weiteren Kreis – ist zwischen dem mittleren und unteren Abschnitt positioniert.
Abbildung: Die Grafik gibt schematisch den Kontext aus dem Talk „radioenins inklusiv“ wider: Werkstätten treten als Unternehmen im Allgemeinen Arbeitsmarkt auf, fokussieren Beschäftigte des 2. Arbeitsmarktes. Nicht explizit genannt, aber relevant sind die Menschen ohne Arbeit. Der Staat bietet Unterstützungssysteme für Werkstätten, deren Beschäftigte und Menschen ohne Arbeit.

Was ist passiert?

Der Kontext wurde zu Beginn der Sendung durch den Nutzen und Zweck des BfA gesetzt. Frau Barbenschneider berichtete aus ihrer persönlichen Betroffenheit: sie ist in einer Werkstatt beschäftigt und befindet sich seit November 2021 auf dem Weg in eine sozialversicherungspflichtige Anstellung. Im Laufe der Sendung berichtete sie, dass sie aufgrund einer Sozialphobie verbunden mit Depression aus dem allgemeinen Arbeitsmarkt fiel. Sie hatte Glück: sie kam wohl schnell in eine Werkstatt, was sie vor der Arbeitslosigkeit rettete – und in eine Beschäftigung brachte, in der sie von Arbeitskräften der Werkstätten professionell betreut wurde. Es wird klar, dass sie den Werkstätten sehr dankbar ist und in ihnen einen Rettungsanker für sich sieht10Mittschnitt, ab 00:06:29 – und damit auch für andere.   

Raúl Krauthausen hielt dem entgegen, dass dies eben nicht für alle gilt. In seiner Arbeit bei den Sozialhelden e.V. erlebte er mehrere Beispiele, in denen Menschen von Werkstätten fallen gelassen wurden, nachdem sie den Wunsch äußerten, für sich das BfA nutzen zu wollen. Viele Menschen würden außerdem nicht ausreichend für ihre neuen Jobs qualifiziert, was explizit Aufgabe der Werkstätten wäre11Mitschnitt, ab 00:09:12. Dies konnte er als Vertreter der Sozialhelden als Arbeitgeber auch direkt belegen. Er äußerte den Verdacht, dass Menschen in den Werkstätten Angst gemacht wird.

Die Kritik an den Werkstätten ging noch weiter:  

  • Beschäftigte erhalten weitaus weniger als den Mindestlohn

Damit schaffen die Werkstätten einen Markt, mit dem sie auf Kosten der Beschäftigten sehr gut verdienen, der staatlich unterstützt und gesichert wird. Die Barrieren für Beschäftigte, die aus diesem System entkommen wollen, sind hoch. Denn im allgemeinen Markt gibt es kaum Fortschritte in Bezug auf Barrierefreiheit. In Deutschland gibt es keine staatliche Instanz, um Barrierefreiheit in Firmen voranzutreiben. Das zeigt auch das Budget für Arbeit: das BfA wurde in Berlin seit seiner Einführung vor vier Jahren gerade 23-mal genutzt – das ist in Raúl Krauthausens Worten eine „Scheißquote“!

Schema: im Hintergrund teilt sich die Grafik in die Bereiche "Allgemeiner Arbeitsmarkt" (AA), "2. Arbeitsmarkt" (2A), "Arbeitlosigkeit" (AL). Im Vordergrund mit einer anderen Farbe: "(1) z.B. psychische Erkrankung" (im AA mit Pfeil zu AL). "(2) Eingangsverfahren (4-12 Wochen)"  (im AL mit Pfeil zu 2A). "(3) Berufliche Qualifizierung und (4) Praktika" (im 2A mit Pfeil zu AA) und "(5) Budget für Arbeit" (im AA).
Abbildung: Beispiel für einen Entwicklungspfad nach einer psychischen Erkrankung: Der Ausfall im Allgemeinen Arbeitsmarkt z.B. durch eine psychische Erkrankung führt oftmals zur Arbeitslosigkeit (1). Um in Werkstätten arbeiten zu können, ist die Einleitung eines Eingangsverfahrens notwendig (2). Besteht von Seiten der Beschäftigten der Wunsch, in den Allgemeinen Arbeitsmarkt zurückzukehren, werden berufliche Qualifizierungsmaßnahmen (3) und Praktika (4) angeboten. Der Wiedereinstieg im Allgemeinen Arbeitsmarkt wird durch das Budget für Arbeit (5) unterstützt.

Krauthausen ging auch explizit auf den Fall von Beatrix Barbenschneider ein: „… Natürlich ist es gut, dass ihr in den Werkstätten geholfen werden konnte. Die eigentliche Frage müsse aber sein, warum ihre psychische Erkrankung ein Grund dafür sein sollte, dass sie nicht mehr im allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein kann.“ Anders formuliert: warum werden derartige Betreuungsmodelle nicht im allgemeinen Markt etabliert, so dass entsprechende Erkrankungen gar nicht erst zustande kommen? Im Sinne einer echten Inklusion von Menschen mit Behinderung sollten Betreuungsmodelle der Standard im allgemeinen Markt sein und nicht ein Spezialfall für den 2. Arbeitsmarkt.

Konsequent zu Ende gedacht würde das bedeuten, dass Werkstätten an Bedeutung verlieren könnten. Dies ist aber nicht die Forderung der Sozialhelden. Es gehe ihnen um Fortschritte, den allgemeinen Arbeitsmarkt inklusiv zu gestalten 12Mitschnitt, ab 00:09:40.

Bemerkenswert war der Kommentar von Beatrix Barbenschneider in der Fragerunde: – „Ich habe ein bestimmtes Interesse, eine Firma zu finden, die mich einstellt, die die Arbeit so niedrigschwellig hält, dass ich da arbeiten kann … das sind für Firmen so krass viele Hürden …“ 13Mittschnitt, ab 01:00:20. Diese Argumentation ist im aktuellen Kontext richtig.

Hier wurde klar, dass Beatrix Barbenschneider – und viele weitere Gäst*innen im Studio – mit den Vorteilen der aktuellen Infrastruktur argumentieren. Raúl Krauthausen hingegen kritisierte die Schwächen genau dieser Infrastruktur und forderte Verbesserungen, die auf die Inklusion im allgemeinen Arbeitsmarkt abzielen.

Dass diese in den Verlust von Werkstätten münden könnte, löste offenbar Ängste aus. Diese äußerten sich u.a. in Sticheleien wie der von Beatrix Barbenschneider: „Sollen die [10.000 Mitarbeitenden] alle Aktivisten werden?“14Mittschnitt, ab 01:00:25

Auch Gäst*innen aus dem Publikum reagierten mit Unmut: „Ich werde richtig gefördert in meiner Werkstatt! … Ohne Werkstatt hätte ich keine Chance!“15Mittschnitt, ab 01:02:57

„Ich wollte mal positiv für Werkstätten reden. Wir können uns beteiligen, wir dürfen mitentscheiden, sind Mitarbeiter auf Augenhöhe, ein 6er im Lotto hier arbeiten zu dürfen. Geld ist für mich völlig nebensächlich, wenn ich weiß, dass ich gesund bin und einen so wertvollen Job habe … Es ist perfekt so wie es ist.“16Mittschnitt, ab 01:25:45

„Meine Persönlichkeitsstörung lässt es nicht zu, im allgemeinen Arbeitsmarkt zu arbeiten. Wie erkläre ich das meinem Arbeitgeber?“ – Krauthausen: „So, wie sie es der Werkstatt erklärt haben.“ – „Aber da sind Fachkräfte, die das verstehen. Wieso habe ich nicht das Recht, in der Werkstatt zu arbeiten?“17Mittschnitt, ab 01:32:35

Besonders auffällig war der Einwurf der Moderatorin Katja Weber: „Es ist wirklich eine schwierige Diskussionsrunde. Quasi alle Besucher kommen aus Werkstätten, und alle finden die Arbeit in Werkstätten geil. Was sagen Sie, ist das nur die halbe Wahrheit?“18Mittschnitt, ab 01:27:35

Raúl Krauthausen: „Niemand will, dass Menschen im allgemeinen Arbeitsmarkt psychisch krank werden. Es geht darum, wie sich Firmen im allgemeinen Arbeitsmarkt diesem Thema nähern können.“ – „Ich stehe Rede und Antwort zu Themen, zu denen ich keine Ausbildung habe. Wie kann es sein, dass Firmen keine Konsequenzen erfahren, wenn bei ihnen Menschen so kaputt gehen.“19Mittschnitt, ab 01:30:37

Fazit

Die Diskussion macht deutlich, dass das Werkstättensystem gut eingespielt ist. Für Menschen mit geistigen und/oder körperlichen Behinderungen schaffen Werkstätten Räume, in denen sie sich beschäftigen und Werte schaffen. Ein besonderer Wert liegt in der individuellen Betreuung in den Werkstätten. Für diese Vorteile verzichten viele gerne auf mehr Geld. Geht es nach Beatrix Barbenschneider und der Mehrheit des Publikums, sollte sich dieses System nicht verändern.

Raúl Krauthausen konnte zeigen, dass das System deutliche Schwächen aufweist – schlechte Bezahlung, keine Rentenabsicherung, schwieriger Wechsel zurück in den allgemeinen Arbeitsmarkt. Da in den letzten Jahren immer mehr Menschen aufgrund psychischer Probleme in die Arbeitslosigkeit oder den zweiten Arbeitsmarkt fallen, stellt er außerdem die Frage, warum eine für Werkstätten typische Betreuung nicht auch im allgemeinen Markt etabliert werden kann. Dies würde nicht zuletzt auch zu einer besseren Inklusion von Menschen mit Behinderungen im allgemeinen Arbeitsmarkt führen.

Organisatorisch zeigte sich die Veranstaltung alles andere als ausgewogen. Die Moderatorin selbst machte klar, dass das Publikum hauptsächlich aus Werkstatträt*innen und Beschäftigten in und rund um die Werkstätten bestand. Während der Fragerunde hatte ich den Eindruck, dass dementsprechend eine negative Stimmung gegen alles, was Raúl Krauthausen sagte, aufgebaut wurde.

Besonders unangenehm fiel mir auf, dass die Moderatorin lieber ihren Zeitplan einhielt und den Einwänden aus dem Auditorium viel Raum gab. Raúl Krauthausen hingegen unterbrach sie des Öfteren, schnitt ihm das Wort ab und schaffte eine Rechtfertigungsposition nach der anderen. Fakt ist, dass die Moderatorin damit ihren Gast allein ließ und ihn einer recht feindseligen Stimmung aussetzte. Das ist zumindest unprofessionell und kann auch durchaus als Diskriminierung verstanden werden.

Damit muss sich der Sender RBB der Tatsache stellen, ableistisch gehandelt zu haben. Anstelle den Sozialhelden einen Raum für ihre Forderungen zu geben, hat die Sendung die Vorteile der Werkstätten fokussiert. Auch wenn diese Gutes leisten, so werden deren Beschäftigte oft als nicht ausreichend für den allgemeinen Markt verurteilt – und zementieren damit die ableistische Haltung gegenüber Menschen mit Behinderungen. Dies hat Raúl Krauthausen des Öfteren versucht zu verdeutlichen und scheiterte an der Moderatorin, den Gäst*innen und dem Publikum.

Update: vor ein paar Tagen tauchte bei Twitter noch ein Transkript der Sendung auf. Dank Dir, Christiane Link!20Tweet: Christiane Link; der Link zum Transkript: https://pad.riseup.net/p/r.c9ab748e323befe6295b90b7fd8e3dea

Korrektorat: Aşkın-Hayat Doğan

Quellen