„Aber Du musst auch meinen Standpunkt verstehen!“ – Muss ich das wirklich? Ich finde es überaus wichtig, in bestimmten Diskursen unbedingt unterschiedliche Sichtweisen zu hören, um gut Entscheidungen treffen zu können. Das setzt aber gewisse Bedingungen voraus, z.B., dass ein Diskurs gewünscht ist.
Dass dies aber seltener der Fall ist als mensch glaubt oder hofft, möchte ich anhand einfacher Beispiele illustrieren.
Fangen wir mit dem einfachen Beispiel an. Viele Menschen werden wohl im Laufe ihres Lebens auf Varianten dieses Bildes gestoßen sein:
Die Aussage des Bildes ist einfach: je nach Perspektive kann das Symbol als „6“ (sechs) oder „9“ (neun) gelesen werden. Die Position der betrachtenden Person ist entscheidend. Das Bild soll verdeutlichen, dass es in unserer Welt nicht „die eine Wahrheit“ gibt, sondern das die Wahrheit auch eine Frage der eigenen Position und Perspektive ist.
Was ist der Nutzen? Gerade in komplexen Situationen können diese Positionen Diskussionen und Konflikte auslösen. Das Bild suggeriert mit zwei Personen auch gleich mehrere mögliche Lösungen: vielleicht macht es Sinn, über die eigene Position zu sprechen, sich mit der anderen Person auszutauschen, die eigene Position zu wechseln, etc. etc.
Nun ist die Realität eine andere. Denn wir Menschen neigen nicht dazu, uns ausführlich mit Problemen zu beschäftigen. Dafür gibt es diverse Erklärungsansätze, wie zum Beispiel den „kognitiven Geizkragen“. Es handelt sich hierbei um eine nachweisbare Tendenz unseres Gehirns, energieaufwändige Denkprozesse möglichst zu unterlassen und einfache Lösungen zu wählen. Dabei nutzt es erlerntes Wissen und Vereinfachung, also Stereotype und Heuristiken. Um es einfach zu sagen: wenn uns ein Thema zu anstrengend wird, dann kürzen wir ab und nutzen das bereits vorhandene Wissen/Urteil und die damit verbundenen Lösungsansätze.
Was erst einmal harmlos klingt, wird ziemlich ernst, wenn eine gewisse Machtkomponente hinzukommt. Wir können das in unserer Gesellschaft überall beobachten.
Traditionen sind die zweifelhaften Stars der Stereotype:
Der Satz „Das war schon immer so“ ist so beliebt, dass uns seine Anwendung schon gar nicht mehr auffällt. Er ist beliebt, um Firmen-Neueinsteigende mundtot zu machen, ungewollte Ehen zu rechtfertigen oder Politiker*innen ein Argument zu geben, warum sie bestimmte Veränderungen nicht unterstützen wollen1.
Konformistischer Druck ist eng mit einer Gruppenzugehörigkeit verbunden. Dieser Druck ist extrem effizient, genauso auch die Bestrafungsmechanismen gegen die, die ihre abweichende Sichtweise halten wollen.
In der deutschen Politik ist der konformistische Druck so etabliert, dass selbst kleine Abweichungen von Fraktionsmitgliedern mit Ausschluss bestraft werden (der sog. Fraktionszwang). Ein prominentes Beispiel dafür ist der Ausschluss der Hamburgerin Miriam Block von allen Ämtern im Jahr 2023, nachdem sie als einzige Grüne dem Antrag der Linken zur Einsetzung eines PUA zur Untersuchung der NSU-Morde zugestimmt hatte2.
Gerade in hierarchischen Abhängigkeitssystemen gibt es das beliebte Motto: „Solange Du Deine Füße unter meinen Tisch stellst…“ Das trifft auf Familien genauso zu wie auf Unternehmen oder den Staat, vor allem, wenn es um Sozialleistungen geht (ALG, Bürgergeld, Asyl, etc.).
Eine weitere toxische Kombination ist die Mischung aus Motivation und Macht. Mächtige Personen wissen, dass ihnen die Meinung anderer egal sein kann. Die eigene Motivation, etwas zu bekommen oder sich durchzusetzen reicht völlig. Die Faktenlage sowie andere Perspektiven spielen keine Rolle. Das prominenteste Beispiel lässt sich gut bei den regierenden Männern der FDP beobachten, die klar Klientelpolitik betreibt und diese über eine Politik stellt, die diese Gesellschaft positiv für alle voranbringt.
Realität tut weh. Nicht alle können das ab. Infolge von Realitätsverlust und -leugnung treten Abwehrmechanismen in Kraft, die einen Austausch völlig unmöglich machen. In Zeiten hoher Belastung mit komplexen Problemen treten Abwehrmechanismen zu Tage, die manchmal sogar die Grenze des rechtlich Zulässigen überschreiten.
Auch die Eskalation in Gewalt ist bis heute durchaus zu beobachten. Die letzte Stufe des Umgangs ist die reine Aggression. Selbstverständlich kann dies eine Folge von Angst sein, jedoch steckt allzu oft auch eiskaltes Kalkül dahinter. Denn wo kein*e Kläger*in (mehr), da keine Richter*in.
Auch wenn dies nicht immer mit dem Tod Andersdenkender enden muss (z.B. durch spektakuläre fristlose Kündigungen u.ä.), so war die Tötung immer schon ein Mittel, um die Komplexität einer Situation zu ihren Gunsten zu verändern. Die Behauptung, unsere Gesellschaft sei schon längst weiter, möge sich rassistisch oder politisch motivierte Morde (z.B. Hanau 2020), die jüngsten Angriffskriege (z.B. Irakkrieg 2003, Russlands Krieg gegen die Ukraine (seit 2023)) oder Genozide (z.B. Deutsches Reich gegen Herero/Nama3 (1904+1908), Serbien gegen Bosnien4 (1995), Israel gegen Gaza5 (seit 2023)) genauer anschauen.
- Die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach sich 2017 explizit gegen die Gleichstellung nicht-normativer Paare aus, obwohl inzwischne sogar in der eigenen Partei Stimmen für die Gleichstellung laut zu hören waren. In ihrer Argumentation sagte Merkel: „Für mich ist die Ehe im Grundgesetz die Ehe von Mann und Frau“. Die Benachteiligung nicht-heteronormativer Paare spielte trotz langer Jahre keine Rolle. Die Tradition muss aufrecht erhalten bleiben. Quelle: https://www.welt.de/politik/deutschland/article166096813/Rote-Karte-Merkel-stimmt-gegen-die-Ehe-fuer-alle.html ↩︎
- siehe https://www.ndr.de/nachrichten/hamburg/Nach-Streit-um-U-Ausschuss-Gruenen-Politikerin-abgestraft,gruene1756.html ↩︎
- siehe auch: https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/335257/voelkermord-an-herero-und-nama-abkommen-zwischen-deutschland-und-namibia/ Das Deutsche Reich wollte damit seinen Herrschaftsanspruch festigen und den erfolgreichen Widerstand der Bevölkerung endgültig brechen. ↩︎
- siehe https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/312564/vor-25-jahren-das-massaker-von-srebrenica/ ; ↩︎
- In einer Pressemitteilung der UN vom 31.01.2024 (https://www.ohchr.org/en/press-releases/2024/01/gaza-icj-ruling-offers-hope-protection-civilians-enduring-apocalyptic) ist u.a. folgendes nachzulesen: „The ICJ found it plausible that Israel’s acts could amount to genocide and issued six provisional measures, ordering Israel to take all measures within its power to prevent genocidal acts, including preventing and punishing incitement to genocide, ensuring aid and services reach Palestinians under siege in Gaza, and preserving evidence of crimes committed in Gaza.“ Die israelische Regierung ist zur Zeit mit Parteien besetzt, die weitestgheend rechtsnationalistisch bis rechtsextrem ausgerichtet wird. So befürwortet die Otzma Jehudit als der Teil der Regierung eine israelische Besiedelung des gesamten (!) Gazasteifens (https://www.jpost.com/israel-news/politics-and-diplomacy/article-774881). ↩︎