Hallo Geschäftsführung, wir haben ein Problem!

Ich kann das Wort „Agilität“ nicht mehr hören! Geht’s Ihnen genauso? Gut! Denn eigentlich sollten wir alle endlich agil denken und handeln. Das ‚alle‘ ist durchaus ernst gemeint: Agilität betrifft auch uns Manager*innen! Auch wenn agile Arbeitsweisen1 aus der Softwareentwicklung kommen, über 20 Jahre später ist uns nun klar, dass Agilität mehr ist als Scrum, Kanban oder eXtreme Programming. Inzwischen wissen wir, dass Agilität an der Spitze der Organisationen anfangen muss, in den Geschäftsleitungen, dem mittleren und operativen Management.

In diesem Artikel möchte ich eine Bestandsaufnahme machen, wie bis heute trotz aller Agilität die klassischen Pattern greifen.

Go, agile Team!

Voraussetzung für agile Teams ist, dass sie von ihren Vorgesetzten dazu bevollmächtigt werden, agil oder flexibel arbeiten zu können. Hier reicht jedoch kein allgemeines „Wir arbeiten jetzt nach Scrum/Kanban/…“. Die Arbeit mit agilen Teams wird schnell Fragen im gesamten Management aufwerfen, z.B. …

  • Wie gestaltet sich die Führungsaufgabe, wenn Personen aus unterschiedlichen Abteilungen in ein Team kommen?
  • Welche Kompetenzen muss ich ins Team delegieren, um Self-Management zu ermöglichen?
  • Wie gehe ich mit Rückfragen und Verantwortlichkeiten aus dem höheren Management um?
  • Wie kann ich mich an der Veränderung von Unternehmensprozessen beteiligen?
  • Wie sichert das Unternehmen die Entscheidungskompetenz des Teams? 

Ich möchte mit diesen Beispielen sichtbar machen, dass sich die Steuerung des Unternehmens verändert. Jedes agile Team wird irgendwann an die Grenzen seiner zugestandenen Kompetenzen kommen. Mit der Notwendigkeit, trotzdem flexibler handeln zu müssen, ist es wichtig, dass angrenzende Abteilungen und Teams ihr Möglichstes tun, um Anforderungen und Wünsche anderer Teams erfüllen zu können. Kurz: die Mitarbeitenden in den Teams sagen ihren Peers und Vorgesetzten, was sie benötigen.

Dies ist ein fundamentaler Paradigmenwechsel zum klassischen Angestelltenverhältnis, das grundsätzlich ein Machtgefälle zwischen Arbeitgebendem und Arbeitnehmenden bedeutet. Eine Veränderung hin zu einer lateralen Führung wird durch mehrere Faktoren behindert. Hier sind vier davon:

Faktor #1: der gesetzliche Rahmen

Das Bürgerliche Gesetzbuch stellt in §611a Abs. 1 BGB fest, in welchem Verhältnis Arbeitnehmende zu ihrem Arbeitgebenden stehen:

(1) Durch den Arbeitsvertrag wird der Arbeitnehmer im Dienste eines anderen zur Leistung weisungsgebundener, fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit verpflichtet. Das Weisungsrecht kann Inhalt, Durchführung, Zeit und Ort der Tätigkeit betreffen. […]“2

Bürgerliches Gesetzbuch in der Fassung vom 25.10.2023; Hervorhebungen durch den Autor

Der rechtliche Rahmen stabilisiert ein Paradigma, das ausschließlich dem Management fundierte Entscheidungen zubilligt. Damit sichert und festigt das Gesetz klassische Managementstrukturen. Besonders die Fremdbestimmung – also das Recht, die Art und den Ablauf der Arbeit festzulegen – spielt eine wesentliche Rolle, auf die ich gleich zu sprechen komme.

Unser Arbeitsleben ist darauf getrimmt, Vorgesetzte zufrieden zu stellen. Dies stellt nicht zuletzt der oben genannte §611a Abs. 1 BGB sicher: Vorgesetzte können jederzeit bestimmen, wie eine Arbeit zu erledigen ist.

Faktor #2: Was (mir) Recht ist …

Führungskräften stehen einige Mittel zur Verfügung, um ihren Führungsanspruch durchzusetzen. Der oben genannte Paradigmenwechsel führt dazu, derartige Ansprüche in Frage zu stellen. Führungskräfte mussten durchaus einen gewissen Aufwand betreiben, um sich diese Position zu erarbeiten. Es ist daher verständlich, dass viele Führungskräfte nicht einfach so auf diese Macht verzichten wollen. Dies ist der Kern des Paradigmenwechsels.

Im Klartext heisst das, dass sich Führungskräfte dieser Veränderung widersetzen. Dazu müssen Sie nicht viel tun. Es reicht bereits, gegenüber Untergebenen ihr Missfallen zum Ausdruck zu bringen. In Fällen, in denen Mitarbeitende nicht sofort auf die gewünschte Linie zurückkehren, gibt es weitere soziale und rechtliche Sanktionen wie engmaschigere Kontrollen, abgelehnte Gehaltserhöhungen oder ein Übergehen bei Beförderungen. Die althergebrachten rechtlichen Mittel wie Abmahnungen und Kündigungen sind nach wie vor im Einsatz.

Faktor #3: Zero-Fehlerkultur

In klassischen Unternehmen verantworten Führungskräfte üblicherweise einen klar umrissenen Bereich – meist als Abteilung, manchmal auch in Form von einem oder mehreren Team(s). Sie haben jederzeit dafür zu sorgen, dass auch unvorhersehbare Ereignisse und Störungen entsprechend bearbeitet werden. Kurz: sie müssen ihren Bereich unter Kontrolle haben.

Aus dieser Sichtweise wird fehlende Kontrolle oft als Schwäche oder Inkompetenz gewertet. Allein der Verdacht der Schwäche oder Inkompetenz kann in klassischen Firmen zu Verlust von Ansehen und Status führen.

Es liegt auf der Hand, dass sich die meisten Führungskräfte deshalb dazu entscheiden, diese Kontrolle zu behalten – selbst wenn das durch komplexe Zusammenhänge nicht mehr möglich ist. Natürlich gilt das auch für Struktur- und Prozessveränderungen im Bereich der Führungskraft. Schließlich würden Veränderungen auch bedeuten, dass Führungskräfte zuvor irgendetwas falsch gemacht haben könnten – was ein Anzeichen von Inkompetenz wäre. Das Spiel beginnt von vorne.

Selbstverständlich treten immer wieder Herausforderungen auf. Die meisten davon können einfach geregelt werden, manche benötigen ein paar Absprachen – und manche lassen sich nicht ohne größeren Aufwand der Organisation lösen. Je nachdem, wie stark das Vertrauen von Führungspersonen in ihre Vorgesetzten ist, kann eine Geschäftsführung nicht davon ausgehen, dass alle Informationen eskaliert werden (können). Ein solcher Effekt wird u.a. „Melonenreporting“ genannt.

Diese Fehlerkultur motiviert nicht dazu, die Kontrolle über die Mitarbeitenden loszulassen. Sie kann sogar das Verhalten bestärken, sich noch deutlicher gegen agile Methoden zu wehren und die Kontrolle zu halten – wie wir es bereits im Abschnitt „was (mir) Recht ist“ gesehen haben.

Faktor #4: Konformismus

„Alle Macht geht vom Chef(fe) aus“… Arbeitnehmer*innen haben gelernt, ihre Arbeit in Einklang mit den Anforderungen und Wünschen ihrer vorgesetzten Person zu bringen. Jede Veränderung und Kritik wird – von beiden Seiten – als potenzielle Störung gesehen. Um soziale Spannungen oder arbeitsrechtliche Konsequenzen zu vermeiden, werden Veränderungen stets mit den Vorgesetzten abgesprochen oder direkt von diesen koordiniert.

Auch wenn in vielen klassischen Unternehmen immer mehr Mitarbeiter*innen zu Partizipation und Feedback eingeladen werden, besteht immer die Gefahr, dass Vorgesetzte kritisches Mitdenken als persönliche Kritik auffassen. Menschen, die jahrelang auf Gehorsam und Konformismus trainiert wurden, werden sich deshalb nicht von heute auf morgen zu proaktiven Selbst-Entscheidern in agilen Setups verwandeln. Im Gegenteil: in vielen Fällen ist das klassische Aussitzen oder Abwarten die beste Strategie, zu prüfen, wie ernst es dem Management mit der Veränderung ist.

Bei mir läuft das anders!

Selbstverständlich wird es Führungskräfte und Mitarbeitende geben, die trotz all dieser Widrigkeiten dennoch den Paradigmenwechsel durchwandern und die o.g. Schmerzen in Kauf nehmen. Ihnen gebührt mein voller Respekt! Bitte vergessen Sie aber nicht, dass einzelne agile Inseln kein Beweis dafür sind, dass in Ihrer Organisation keine klasssischen konformistischen Strukturen wirken.

Der Paradigmenwechsel ist nun schon über 20 Jahre im Gange, und er wird auch noch einige Jahrzehnte benötigen. Es mag in vielen Firmen bereits viele Veränderungen geben, und das ist auch gut so. Aber es reicht nicht, operative Teams „agil“3 aufzustellen: die gesamte Organisationsstruktur, zum Teil sogar Gesetze müssen sich verändern.

Aufgrund der rechtlichen Situation ist die Unterstützung der Geschäftsführung oftmals unumgänglich. In Abhängigkeit vom Veränderungsdruck auf dieser Ebene kann es trotzdem passieren, dass der oben genannte Paradigmenwechsel nicht unterstützt wird. Das ist in gewisser Weise nachvollziehbar. Ein möglicher Zwischenschritt kann daher sein, die Fremdbestimmung auf operativer Ebene explizit durch vertragliche Regelungen auf ein Minimum zu reduzieren.

Auch wenn das Management „alles richtig macht“, kann es trotzdem passieren, dass sich die Belegschaft konformistisch verhält. Dieser Veränderungsprozess, der gerne auch „Transformation“ genannt wird, dauert deshalb oftmals mehrere Jahre und ist oft schmerzhaft.

Letztendlich kann es für Unternehmen nur von Vorteil sein, für alle Ebenen eine offene Fehler- und Feedbackkultur zuzulassen. Um hier eine Veränderung einleiten zu können, braucht es Mechanismen, die Mitarbeiter*innen und Manager*innen in allen Positionen eine (psychologische) Sicherheit gewähren. Zuletzt muss die eigene Kritikfähigkeit und Veränderung jeden Tag vorgelebt und unter Beweis gestellt werden. Und das fängt im Idealfall in der Geschäftsführung an.

Fazit: Agiles Arbeiten, agiles Handeln!

Ich habe den Artikel mit den Führungskräften begonnen und ende nun mit der Feststellung, dass die Gechäftsfühurng zusammen mit ihren Führungskräften am Erfolg agiler Teams arbeiten sollten. Agiles Arbeiten bedeutet einen Paradigmenwechsel im Unternehmen. Es benötigt das Ende von konformistischem Verhalten wie z.B. dem Melonenreporting, und es verzichtet auf sozialen und rechtlichen Druck zu linienkonformem Verhalten. Die Gefahr des sozialen Selbstmords muss auf allen Ebenen beendet werden. Unternehmen sollten daher ein Umfeld schaffen, das auch kritischen Mitarbeiter*innen eine psychologische, rechtliche und soziale Sicherheit bietet.

Zur Unterstützung von Unternehmen in einer Transformation gibt es neben den mitarbeitenden Agile Coaches und Scrum Mentor*innen auch freiberufliche Agile Coaches und Organisationsberater*innen. Diese Gruppe arbeitet explizit selbstbestimmt und kümmert sich – je nach Auftrag – darum, das Unternehmen in seinem Wachstum zu unterstützen. Sie stellen einen wertvollen Hebel dar, interne Machtstrukturen aufzubrechen und notwendige Veränderungen zu initiieren.

  1. Eine kurze Zusammenfassung, was Agiles Arbeiten bedeutet, finden Sie hier: Agiles Arbeiten ↩︎
  2. Siehe auch https://www.gesetze-im-internet.de/bgb/__611a.html ↩︎
  3. Meiner Erfahrung nach tendieren Teams in klassischen Unternehmen dazu, ihre etablierten Verfahren mit neuen Arbeitstiteln wie „Daily“, „Refinment“ und „Review“ umzutaufen ohne auf den Kern agilen Arbeitens einzugehen. Dieses Verhalten wird auch „Cargo Cult“ genannt und kann für Organisationen höchst toxisch sein. Mitarbeitende, die derartiges Verhalten als agil erlebt haben, werden diese Formen zukünftig meiden, da es ihnen keinerlei Mehrwert, sondern nur mehr Aufwand verschafft. ↩︎