CN Sexualität (erwähnt), mentale Zustände, Heterosexismus
Heute ist der erste Tag im Urlaub. Wir gehen spät zum Strand, schließlich wollen wir ausschlafen. Dort angekommen genießen wir die Sonne. Wie üblich sind die Strandbars schon eröffnet. Das lockt uns natürlich auch: Kaffee am Strand. Das wär‘ jetzt genau das Richtige!
Und da sitzen wir, und während wir unseren Kaffee schlürfen, schieße ich dieses Bild. Im Hintergrund läuft Deutscher Schlager – „Nicht verdient“ von Michelle und Matthias Reim [1]. Ich spüre, dass das wohl diese Idylle ist, die so „schön“ sein soll… nur warum fühlt sich das so komisch an?
Das Erste, was mir auffällt: niemand um mich herum lächelt. Das ist auch nicht nötig, schließlich drücken Menschen ihr Wohlbefinden höchst unterschiedlich aus. Dennoch fühle ich, dass mein Umfeld von Stress und Anspannung gefüllt ist, so, als ob sich alle größte Mühe geben, jetzt entspannt zu sein – oder besser: entspannt und glücklich sein zu müssen. Das alles fühlt sich künstlich an, konstruiert, unecht…
Meine Gedanken gehen unwillkürlich zur Frage, was dieses „Konstrukt Glück“ eigentlich sein könnte. Mir wird klar, dass es Elemente der konkreten Welt sind, die ein Glücksgefühl suggerieren: z.B. am Strand auf weiß-blauen Sitzmöbeln zu sitzen, die mit Plastikblümchen verziert sind. Strandkörbe als Inbegriff des intimen Luxus und den weißen Sandstrand zu unseren Füßen. Und natürlich das Meer im Hintergrund, das Sonnenwetter.
In einer rein auf Dinge und Äußeres beschränkten Welt, wäre ich wohl glücklich. Der Strand und das Meer sind traumhaft, sie machen mich wirklich aus tiefster Seele glücklich. Der Kaffee in meiner Hand tut meiner Gewohnheit gut. Alles andere sind Objekte, die ich nicht wirklich brauche. Manche von ihnen sind eindeutig dazu gedacht, den Konsum zu erleichtern. Sie suggerieren: „Hey, ich bin da, das ist schön, genieß‘ das gefälligst und sei glücklich! Macht 8,30 EUR…“ Dieses kapitalistische Glück ist für mich genauso unecht wie die Blümchen auf den Tischen.
„Er hat dich nicht verdient, nimm mich“
Der Schlager im Hintergrund bohrt sich in mein Bewusstsein: „Denn er hat dich nicht verdient, dich nicht. Nein, er hat dich nicht verdient, nimm mich. Du und ich, das ging so nah, weil es echte Liebe war.“
Echte Liebe? Der Text ist furchtbar! Soll unser (Liebes-)Glück im Kampf entschieden werden? Geht es nur darum, einer anderen Person Partner*innen wegzunehmen? Ist es „wahre Liebe“, meine Herzenspartner (ja, Plural) zu Entscheidungen zu zwingen? „Wahre Liebe“ ist wohl eher die Ware Liebe, als Trophäe gibt es eine*n Vorzeigepartner*in. Heteronormativer Bullshit! Das Bild der zwei heterosexuellen Menschen in monogamer Eintracht spiegelt nicht wider, dass es so viele Menschen gibt, die sich in unterschiedlichsten Liebes- und Partner*innenschaftsformen umeinander kümmern und eine glückliche Zeit haben. Und ja, dazu gehört wohl eher Sex, Genuss, Vertrautsein als das Etikett „MEINS“…
Potemkinsches Seidenpapier
Je länger ich über die Dinge, die Werte, diese Realität nachdenke, desto unsicherer werde ich. Was sich früher als richtig oder gegeben anfühlte, nehme ich immer mehr wie ein Trugbild wahr, wie Potemkinsche Seidenpapierkonstrukte [2]. Sie sind so dünn, so zerbrechlich. Ob das andere auch „sehen“?
Eigentlich bin ich nicht darüber traurig, was mein Verstand mit unseren Konstrukten macht. Ich glaube aber erahnen zu können, was sie mit anderen Menschen machen. Ich spüre, dass es gefährlich sein könnte, anderen diese Wahrnehmung der Realität überhaupt zu zeigen.
Norm-Aalität
Ich sitze neben meinem Herzenspartner. Das allein reicht schon, dass uns manche Menschen anstarren. Sie zeigen uns, dass wir nicht der Norm entsprechen. Könnte es sein, dass unsere bloße physische Anwesenheit schon eine Gefahr für ihre Realität bedeutet? Was passiert wohl, wenn ich nun die Plastikpflanzen oder die Musik in Frage stelle? Die Gegenstände, an denen Werte und Wohlbefinden gebunden zu sein scheinen? Bin ich dann nur ein Spinner (uff, Glück gehabt) oder jemand, der nicht normal im pathologischen Sinne ist (To Do: how to get away with mental diversity [3])?
Dieses „normal“ sein, also glücklich im Sinne eines gesellschaftlich erwünschten Verhaltens und Lebens in konsumförderlichen Realitäten, sorgt dafür, dass ich mich tatsächlich immer wieder „entnormt“ fühle. Außerhalb der Norm bin ich nicht, denn diese ist ständig da, als gesellschaftlich etabliertes Konstrukt, geschützt durch Gesetze und Verhaltensregeln. „Un“normal will ich nicht sein, und tatsächlich gibt es da draußen viele Menschen, die diesem Normschema ebenfalls nicht entsprechen.
Manchmal wünsche ich mir, ich könnte einfach am Strand sitzen, dem Meer lauschen und meinen Kaffee genießen. Die Dekonstruktion der Realität in dieses Potemkinsche Seidenpapier passiert einfach so. Manchmal macht mir das eine Scheißangst. Dies hat nichts mit Kontrollverlust zu tun, sondern damit, dass hinter so etwas einfachem wie einer Strandbar mit normativem Musikgeschmack ein komplettes Universum an Werten, Bedeutung, Gefühlen und Sinn hängt. Der Kontext spielt eine Rolle und das, was ich und andere daraus machen. Natürlich baue auch ich mir neue Konstrukte aus Potemkinschen Seidenpapier. Und selbst das Potemkinsche Seidenpapier ist nur eine Konstruktion, genauso wie Glück oder Liebe oder Plastikblumen.
Meine Angst ist, dass mich diese merkwürdige Wahrnehmung in Gefahr bringt, denn Papier zerreisst sehr leicht. Was bedeutet das für mein Wohlbefinden? Und was bedeutet das für andere Menschen? Manchmal bräuchte ich wirklich Urlaub von meinem Verstand. Ich bin gespannt, welches Konstrukt sich mein Verstand dafür einfallen lässt…
„Lass uns gehen, irgendwie ist die Musik merkwürdig“ – sagt mein Herzenspartner. Ich verlasse meine Gedanken mit Freuden. Wir gehen weiter, auf konkretem Sand und der konkreten Frage, wo wir was zum Essen bekommen. Das ist Urlaub (von meinem Verstand).
Fußnoten:
[1] Wer den Song gerade nicht im Ohr hat: Michelle, Matthias Reim: Nicht verdient (2018).
[2] Potemkinsche Seidenpapierkonstrukte sind eine Anlehnung an die Potemkinschen Dörfer. Dieser Begriff steht synonym für Vorgetäuschtes, für Lügenkonstrukte. Die Geschichte dazu basiert ebenfalls auf einer Lüge. Sie wurde wahrscheinlich von Georg Adolf Wilhelm von Helbig in die Welt gesetzt, der den Fürsten Potjomkin um sein Ansehen bei Katharina der Großen beneidete. Von Helbig behauptete, der Fürst habe ganze Dörfer aus Pappmaschée entstehen lassen, um den wahren Charakter der von Potemkin verwalteten Ländereien zu verbergen. Unüberliefert ist, was sich von Helbig dabei dachte. Vielleicht war es einfach nur ein „er hat dich nicht verdient, nimm mich“ … siehe Fußnote (1)
[3] Der Titel ist der Serie „How to get away with murder“ entlehnt. Während in der Serie die Student*innen und ihre Professorin mehrere zum Teil selbst verursachte Tötungen vertuschen müssen, geht es im Fall der mentalen Vielfalt weder um eine Straftat noch die eigene Schuld. Aus der Psychologie wissen wir, dass Denkmuster nicht ausschließlich naturgegeben sind, sondern sich im Laufe des Lebens ausprägen (siehe u.a. Piagets Forschungen zur genetischen Epistemologie). Eigentlich denkt also jeder Mensch „anders“, bei den meisten kriegen wir es nur einfach nicht mit. Dabei hilft uns übrigens noch ein anderes kognitionspsychologisches Phänomen: wir alle neigen dazu, kognitive Geizhälse zu sein. Oder einfacher ausgedrückt: wir wollen nur dann nachdenken, wenn es sich für uns lohnt. Deswegen ist es für viele Menschen einfacher, davon auszugehen, dass wir alle gleich ticken. Den Preis dafür zahlen diejenigen, die eben von einer recht willkürlichen Norm abweichen. Im einfachsten Fall werden Menschen einfach nicht Ernst genommen („absurd“, „abwegig“, „nicht nachvollziehbar“, „plemplem“,…) im schlimmsten werden sie von Spezialist*innen pathologisiert. Wer dem entgehen möchte, wird sein Verhalten entsprechend anpassen. Eigentlich absurd, denn das würde im Extremfall bedeuten, dass so ziemlich jede Person versucht, ihr wahres gedankliches Ich zu verbergen… aber das ist wohl ein Thema für einen anderen Blog Post.